Ewigkeit jetzt - Dialoge über das Glück. Auszug aus dem Buch von Francis Lucille. Kapitel 4 “Unser wahres Wesen ist kein Objekt”

Francis Lucille

Ewigkeit jetzt - Dialoge über das Glück.

Auszug aus dem Buch von Francis Lucille.

Kapitel 4

Unser wahres Wesen ist kein Objekt

Was ist unser wahres Wesen?

Es ist kein Objekt. Es ist nichts, was unsere fünf Sinne wahrnehmen oder unsere mentalen Anteile sich vorstellen können. Unser falsches Wesen ist immer irgendeine Art von Objekt. Der Körper zum Beispiel ist ein Objekt. Er besteht aus einer Ansammlung von Wahrnehmungen, Empfindungen und von Konzepten darüber, was unser Körper ist. Der mentale Bereich ist auch ein Objekt. Unser wahres Wesen dagegen ist kein Objekt.

Es ist sehr schwierig, darüber zu sprechen, weil Worte und Sprachstruktur dazu dienen, Objekte zu beschreiben. Uns fehlen die Worte, um über etwas Nicht-Objektives zu sprechen – wir sind dabei auf Metaphern und Negationen angewiesen. Dann sagen wir, dass wir nicht unser Körper und nicht unser mentaler Anteil sind. Docht trotz alledem SIND WIR. Unsere Existenz ist etwas, dessen wir uns absolut sicher sind. Alles andere könnte eine Täuschung sein, eine Illusion, ein Traum. Und selbst wenn das der Fall wäre, hätten wir keine Zweifel darüber, dass WIR SIND.

Unser wahres Wesen entzieht sich uns. Wir können es nicht sehen, berühren, begreifen oder uns vorstellen. Auf der anderen Seite gibt es außer ihm in der gesamten Existenz nichts, dessen wir uns sicher sein können. Wenn wir auf diese Art über es nachdenken und feststellen, was es nicht ist, richtet uns das ohne unser Wissen auf unseren zeitlosen Hintergrund aus. Wir stehen ihm zur Verfügung. Das ist alles, was wir tun können – für ihn offen sein. Wir können ihn nicht dazu bewegen, sich uns zu offenbaren. Er offenbart sich uns zu seinem eigenen Vergnügen als Wahrheit, Schönheit, Liebe und Unsterblichkeit.

Sie meinen, dass er sich in manchen – zum Beispiel unschönen – Situationen nicht offenbart? Warum offenbart er sich nicht die ganze Zeit?

Vielleicht offenbart er sich die ganze Zeit, und wir schauen bloß nicht hin. Der beste Platz, um ein Objekt zu verstecken, ist oft, es direkt vor die Augen zu stellen. Unser wahres Selbst ist so nah und so leuchtend, dass es mit den Augen nicht gesehen werden kann, und es versteckt sich in der Unmittelbarkeit des Jetzt.

Wir würden es gerne jederzeit als ein Objekt vor uns sehen, doch das ist nicht möglich, weil Objekte kommen und gehen, weil sie geboren werden und sterben. Seine Schönheit liegt darin, dass es kein Objekt ist. Wäre es eins, so könnten und würden wir es verlieren. Da es jedoch das ist, was wir sind, können wir es nicht verlieren. Was uns davon abhält, es zu sehen und es bewusst selbst zu sein, ist unser Verlangen, es als ein Objekt wahrzunehmen. Diese Haltung könnten wir mit „in die falsche Richtung schauen“ bezeichnen. Die Frage ist also, was ist die richtige Richtung? Selbst wenn wir versuchen, in die nicht-objektive Richtung zu schauen, müssen wir uns der Tatsache stellen, dass die Abwesenheit eines Objektes auch eine Art von Objekt ist. Wir müssen uns also über die Abwesenheit von Objekten hinaus begeben. Wir müssen die Abwesenheit ihrer Abwesenheit erreichen, welche sich uns als allesdurchdringende, allesumfassende Gegenwärtigkeit enthüllt.

Zunächst versuchen wir, unser wahres Wesen so zu betrachten, als wäre es ein Objekt. Dann verstehen wir, dass dieser Versuch zum Scheitern verurteilt ist. Als Nächstes betrachten wir es als die Abwesenheit von Objekten und begreifen irgendwann, dass auch diese Suche scheitern muss. Schließlich befinden wir uns in einem Zustand des Nichtwissens, einem Zustand, in dem der Verstand all seine Möglichkeiten ausgeschöpft hat und nirgendwo mehr hingehen kann. Wir kommen zu der Einsicht, dass der Verstand dieses leuchtende Gewahrsein, welches ihn beseelt, nicht begreifen kann, und werden still. Mit diesem Nichtwissen müssen wir uns vertraut machen, müssen uns an diese neue Dimension gewöhnen, um zu entdecken, dass sie nicht Nichts ist. Diese stille Gegenwärtigkeit ist keine bloße Abwesenheit von Gedanken. Sie ist lebendig. Sie ist das Leben selbst.

Wenn ich in meinem Garten bin, erlebe ich manchmal das, was Sie beschreiben. Kann diese Erfahrung je mit Worten ausgedrückt werden?

Sie ist kein Konzept und kann deshalb auch nicht wie ein Konzept nur mit Hilfe von Worten mitgeteilt werden. Ich könnte das Konzept einer Differentialrechnung mit Worten übermitteln, aber wir müssen verstehen, dass unser wahres Wesen kein Konzept ist. Worte können auf zwei verschiedene Arten gebraucht werden. Die eine Art richtet sich an die logische, rationale Seite des Verstandes. Doch wenn wir sie auf diese Art benutzen, können sie nichts weiter erreichen, als den Verstand zu der Einsicht zu führen, dass unser wahres Wesen kein Konzept ist und dass er es auf eigene Faust nicht erreichen kann. Wenn wir ganz verstehen, dass dieser dynamische Prozess zum Scheitern verurteilt ist, dass er uns das Glück, welches wir suchen, nicht verschaffen kann, dann wird der Verstand still. Zu Beginn hat der Denkprozess vielleicht noch ein gewisses Momentum wie ein Elektromotor, der weiterläuft, nachdem der Strom abgestellt wird – doch wir sind nicht mehr die Akteure in diesem Spiel. Diese Einsicht setzt die Energien frei, die wir für den Versuch, das Glück zu finden, eingesetzt hatten, und lässt sie zu ihrer Quelle zurückließen.

Worte können auch auf andere Art benutzt werden. Die Antworten, die ich Ihnen gebe, kommen nicht aus der Erinnerung, sondern aus dem Jetzt. Sie enthalten gewisse Inhaltsstoffe, welche ihren Ursprung signalisieren. Wenn Sie diesen Worten mit kindlicher Unschuld lauschen, können sie eine Resonanz in Ihnen erzeugen, und Sie entdecken sich selbst vielleicht als eine empfangende Präsenz. Damit das geschieht, müssen Sie völlig offen sein. Sie müssen alles beiseite stellen, was Sie gelernt haben oder wissen, denn die Wahrheit ist immer frisch und erscheint immer unerwartet. Das erordert Ihre multidimensionale Offenheit, nicht nur auf der Ebene des Intellekts, sondern auch im Fühlen und Empfinden. Wenn Ihnen das nicht gelingt, wenn Gedanken oder Körperempfindungen diese Offenheit stören, dann brauchen Sie diese Störung einfach nur wahrzunehmen. In dem Moment, wo Sie bemerken, dass Sie nicht zuhören, hören Sie schon wieder zu. In dem Moment, wo Sie bemerken, dass Sie nicht offen und empfangend sind, sind Sie schon wieder offen und empfangend. Wenn Sie meine Worte mit der richtigen Haltung annehmen, werden sie den Weg in Ihr Herz finden.

Wie unterschieden Sie zwischen dem, wovon Sie sprechen und der Meditation? Oder sprechen Sie über Meditation?

Ich weiß nicht, was Sie mit Meditation meinen. Sagen Sie es mir, denn das ist ein Wort mit so vielen verschiedenen Bedeutungen.

In der Stille mit einem Mantra oder dem Atem zu sitzen, so dass der Verstand zur Ruhe kommt und man offen für alles ist, was hereinkommt.

In einigen Meditationsformen wird die mentale Aufmerksamkeit auf ein Objekt gerichtet. Das kann ein Mantra oder der Atem, eine Kerzenflamme, eine Statue, eine heilige Schrift, die Vorstellung von einer Gottheit mit all ihren göttlichen Eigenschaften sein. Die Absicht besteht in diesem Fall darin, alles, was nicht Objekt der Meditation ist, auszusondern um im Objekt zur Ruhe zu kommen. Irgendwann geschieht durch die Aussonderung all dessen, auf was nicht meditiert wird, ein Verschmelzen mit dem Meditationsobjekt. Dieses Einswerden wird Samadhi genannt. Die Verweigerung all dessen, was nicht Objekt der Meditation ist, führt zu einem Ungleichgewicht, so dass der Zustand, der aus dieser Mühe resultiert, nicht aufrechterhalten werden kann – mag er noch so beglückend oder erfreulich sein. Wenn Sie sich diese Glückseligkeit genauer anschauen, unterscheidet sie sich praktisch nicht von jeder anderen objekt-erzeugten Freude, wie zum Beispiel dem Glück, das Sie empfinden, wenn Sie den langersehnten roten Ferrari bekommen. Sie hat einen Anfang in der Zeit und ein Ende in der Zeit. Den ernsthaften Wahrheitssuchenden wird solch eine zeitgebundene Glücksepisode bald nicht mehr zufrieden stellen. Er sucht nach dem, was zeitlos ist und findet heraus, dass das Samadhi, welches als Resultat einer objektiven Meditation erreicht werden kann, letztendlich die gleiche Art von Glück ist, gegen die er sich immunisiert wähnte. Wenn das erst einmal klar ist, öffnet sich die Tür zur wahren Meditation.

Wahre Meditation ist spontan. Sie ist eine offene Einladung, die zwischen allem, was im Feld des Bewusstseins erscheint, nicht unterscheidet. Es findet keine Auswahl statt. Da ist nur wahlfreies Erlauben, sowohl von äußeren Wahrnehmungen, Gefühlen, Körperempfindungen, Gedanken als auch von ihrer Abwesenheit. Allem wird gleichermaßen erlaubt zu erscheinen – und das geschieht nicht in Form einer Übung, sondern weil die mentale Ebene ihre eigenen Grenzen erkannt hat. Mehr muss ein Wahrheitssuchender nicht tun. Er braucht keine weiteren spirituellen Praktiken zu verfolgen.

In einer derartigen Offenheit leben wir im Jetzt. Da gibt es nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren. Gewahrsein ist kein Fernziel, das wir am Ende eines Prozesses erreichen. Wir haben schon jetzt alles, was wir benötigen. Wir sind voll ausgerüstet, nichts fehlt. Zu Beginn werden wir diese völlige Problemlosigkeit, in der wir neuerdings leben, vielleicht als neutralen Zustand erfahren. Das hat damit zu tun, dass der Verstand immer noch wie ein Elektromotor weiterläuft, dessen Stromzufuhr gerade gekappt worden ist. Wenn uns unsere neue Perspektive vertrauter geworden ist, fühlen wir das Entzücken des Jetzt, welches frei von Ursachen und absolut nicht-Objekt ist. Das ist, als würden wir das Radio nach Stunden von dummem Gebrabbel auf eine neue Frequenz einstellen, wo ein Klavierkonzert von Mozart erklingt. Dann leben wir auf zwei Ebenen gleichzeitig: einmal in der gewöhnlichen objektiven Welt im Vordergrund, und dahinter auf einer neuen Ebene, welcher die Musik und die Schönheit entstammen. Diese Ebene ist kein räumlich festgelegter Ort. Sie ist ein metaphysischer Ort, der Hintergrund des mentalen Bereichs und der Kern unseres Seins.

Wenn wir lauschend leben, werden wir bemerken, dass sich unsere Gefühle und Gedanken, sowie die Art, wie wir unseren Körper wahrnehmen oder mit anderen im Kontakt sind, ändern. Einladende Offenheit entspricht der Gesetzmäßigkeit des Universums. Die Nacht ist einladend, der Himmel ist offen, die Vögel und Bäume sind einladend. Wenn wir von offenen menschlichen Gefährten umgeben sind, leben wir in Schönheit. Wir teilen unsere Gegenwärtigkeit miteinander und beginnen zu ahnen, wie sich das verlorene Paradies angefühlt haben mag.

Übersetzt ins deutsche von Christine Bolam.


Francis Lucille: Ewigkeit Jetzt

Verlag: J. Kamphausen, Postfach101849, D-33518 Bielefeld

ISBN 3-933496-18-7

Wir danken dem J.Kamphausen Verlag für die freundliche Unterstützung und Genehmigung einer Veröffentlichung.

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